Fortschritt dank Rückschritt

Ein „Zauberwort“ in Wirtschaft, Politik und Kultur heisst Fortschritt. Dies betrifft u.a. steigende Umsatzzahlen, technische Erneuerungen, höhere Börsenkurse, neue Trends etc. Der sogenannte Fortschritt kennt nur eine Richtung: vorwärts nach oben. Verändern sich die entsprechenden Parameter kaum oder bleiben sie an Ort stehen, wird das als schlechtes Zeichen gedeutet. Sind die Zahlen gar rückläufig, ist der „Weltuntergang“ nicht mehr fern. Doch stimmt das?

Das Fortschrittsdenken ist vielfach begleitet von einem Denken in kurzfristigen Zeiträumen. Wenn es rückwärts geht, drückt das auf die Stimmung. Betrachtet man jedoch etwas über eine längere Zeitperiode, kann es ganz anders aussehen. Plötzlich erweist sich beispielsweise ein „schlechtes“ Jahr gar besser als der Durchschnitt der vergangenen Jahre! Oder um ein grösseres Objekt wie z.B. eine Kirche ganz betrachten zu können, muss man ein paar Schritte zurücktreten um den Überblick zu haben. Das hat auch Gültigkeit für den persönlichen Lebensentwurf: zurückschauen – sich erinnern – Auslegeordnung machen: Wo stehe ich gerade? Wie ist das alles gekommen und warum? Was ist aus meinen Plänen geworden? Wie soll es weitergehen? Der Schritt zurück ist also notwendig, um sich einen Überblick in räumlicher, zeitlicher und persönlicher Hinsicht zu schaffen.

Bevor ein Pfeil abgeschossen werden kann, muss er zurückgezogen werden.

Diese „banale“ Erkenntnis der Bogenschützen beinhaltet eine unabdingbare Lebensweisheit. Ein ungestümer Vorwärtsdrang endet nicht selten in einem wenig erfolgreichen Aktionismus, ja sogar in einem Fiasko, dem Burnout. Was Not tut, ist zudem das Stillehalten – beim Bogenschützen das Ankern. In diesem Moment des „Nichtstuns“ geschieht doch Wesentliches: Die Fokussierung auf das Ziel. Ein zu wenig ausgezogener und allzu hastig abgeschossener Pfeil wird sein Ziel verfehlen!

Stille- oder Innehalten beinhaltet immer eine religiöse Dimension. Das Wort Stille kommt von „stehen bleiben“. Still werden bedeutet also, dass man stehen bleibt, um sich dem zuzuwenden, was einen gerade be-wegt und was ist. Der Mensch erkennt sich in der Stille mit seinen Licht- und Schattenseiten. Er erkennt und erfährt in und aus der Stille – dem Verstand und der Vernunft – verborgene Seiten des Lebens. Der Mensch begegnet sich selbst, dem Göttlichen und allen anderen Leben auf eine neue Art und Weise.

Das Denken, dass ein Schritt zurück auch einen Fortschritt bedeuten kann, findet mehr und mehr Anhänger. Es wird – wie so oft mit einem englischen Namen versehen – Downshifting (Runterschalten) genannt. Es bezeichnet einen Lebensstil von einem finanziell attraktiven aber stressvollen Leben hin zu einer einfachen und sinnerfüllten Existenz. Sie nehmen bewusst in Kauf, weniger zu arbeiten und zu verdienen für mehr frei verfügbare Zeit, Ruhe und Lebensqualität. Es handelt sich um kein „Aussteigen“, sondern vielmehr um einen Schritt zurück, um „einen Gang zurückschalten“. Der neu erlebte Freiraum stellt einen Fortschritt dar.

In der christlichen Spiritualität hat das Downshiften als Einübung in das Innehalten und in die damit verbundene Gelassenheit eine lange Tradition. Der damit verbundene neue Lebensstil ist von der Bibel insbesondere von Schöpfungsgeschichte geprägt ist: „Und Gott ruhte am 7. Tage“ (1. Mose/Genesis 2,2-3). Der Höhepunkt der Schöpfungsgeschichte ist der Ruhetag. Er dient der Würdigung, dem Staunen und der Segnung. Es ist der Tag zum Innehalten und zum Feststellen: „Es ist sehr gut!“ – oder anders ausgedrückt: Auch wenn man einen Schritt zurück tritt, einen Moment inne hält: Es wird alles gut kommen! – eine zuversichtliche Botschaft.

„Es liegt im Stillesein eine wunderbare Macht der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche.“

Dietrich Bonhoeffer