Pfeil und Bogen als Symbol der Ganzheit

Kaum ein Mensch sehnt sich nicht nach Ganzheit. Allzu gegenwärtig ist das Leiden an Zerrissenheit und Bruchstückhaftigkeit. Ziel fast aller Religionen ist es, Wege zur Ganzheit aufzugeigen, Bruchstückhaftes und Gegensätze zu verbinden. Ein Aspekt davon ist die „Heilige Hochzeit“, die Vereinigung eines Gottes und einer Göttin – oder in der Sprache von C.G. Jung ausgedrückt: die Integration von animus und anima.


Beim Meditativen Bogenschiessen kann diese Integration erfahren werden, da Pfeil und Bogen als Symbole des Männlichen und Weiblichen darstellen. Das eine geht nicht ohne das andere – es müssen zwingend beide Elemente vorhanden sein. So ist Bogenschiessen als solches ein Symbol der Ganzheit.

Als ich fragte, woher der Bogen käme, war es meine Grossmutter, die antwortete: »Vom Mond«, sagte sie. Sie erklärte, dass der Mond eine Frau ist, und dass sie uns Lakota den Bogen geschenkt hat. Ich akzeptierte, was sie sagte, ohne weitere Fragen zu stellen. Ein paar Abende später zeigte sie mir die dünne Sichel eines Neumondes am Himmel. Die schmale Mondsichel sah genauso aus wie der Bogen meines Grossvaters, wenn er die Sehne auszog, um einen Pfeil abzuschiessen. … Auch die dünne Sichel des Neumondes ist in der Mitte am breitesten und wird zu den Enden hin schmaler. Wie mein Grossvater sagte, erkannte ein Bogenschütze vor langer, langer Zeit, dass er es mit einer Bauweise zu tun hatte, bei der sich die Arme des Bogens gleichmässig bogen oder krümmten. Deshalb hat der Mond uns praktisch und auch spirituell den Bogen geschenkt. …


… Früher oder später stellte ich die nächste naheliegende Frage: Wenn der Bogen vom Mond kam, woher kam dann der Pfeil? »Von der Sonne«, erwiderte mein Grossvater. Ich wusste bereits, dass die Sonne als Mann betrachtet wurde. Deshalb schloss ich daraus – richtigerweise, wie sich herausstellte –, dass der Pfeil männlich sein musste. Als eines Nachmittags die Sonnenstrahlen wie Lichtpfeile durch die aufgerissenen Wolken herabschossen, deutete mein Grossvater darauf. Das waren die Pfeile der Sonne. Der Bogen beschrieb eine anmutige Biegung, während der Pfeil absolut gerade, so gerade wie irgend möglich war.

(Joseph M. Marshall: Die Lehren von Pfeil und Bogen / Kopp-Verlag, Rottenburg / ISBN E-Book 978-3-86445-411-0)

Diese Erklärung der Lakota-Indianer erscheint etwas abgewandelter Form auch in der griechischen Mythologie: im Zwillingspaar Apollo und Artemis (römisch: Diana). Beide tragen als Symbol u.a. Pfeil und Bogen. Apollo ist Gott des Lichts (Sonne), der Heilung, des Frühlings, der sittlichen Reinheit und Mässigung sowie der Weissagung und der Künste, insbesondere der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs; ausserdem ist er ein Gott der Heilkunst und der Bogenschützen. Artemis ist Göttin der Jagd, des Waldes, der Geburt und des Mondes sowie die Hüterin der Frauen und Kinder. Zwillinge gehören zusammen und bilden so eine Ganzheit.

In der Bibel sind diesbezügliche Ansätze sichtbar: “Wie Pfeile in der Hand eines Helden, so sind die Söhne der Jugend: Glückselig der Mann, der seinen Köcher mit ihnen gefüllt hat!“ (Psalm 127, 4.5). In den Psalmen wird der Mond mehrmals gemeinsam mit der Sonne als Garant für Beständigkeit (= Ganzheit) genannt (Ps 72,5; Ps 89,37f.).

In der japanischen Tradition sind Pfeil und Bogen Symbol für die Liebe. Die phallische Erscheinung des Pfeils ist offensichtlich, ebenso der Bogen, welcher an den runden Bauch einer schwangeren Frau erinnert.

Es gibt viele Wege um seine Ganzheit wieder zu entdecken. Pfeil und Bogen können hilfreiche Begleiter sein: Man kann das Ursprüngliche in sich wieder spüren, weil man einen Gegenstand verwendet, der über Tausende von Jahren das Überleben der Menschen sicherte. Man hat einen Grund hinaus in die Natur zu gehen und sich wieder als Teil von ihr zu spüren. Man tut etwas für seinen Körper, das Gefäss der Seele im hier und jetzt.