Der Stand – Senkrechte Schweizer

Der Ausdruck „senkrechte Schweizer“ war schon vor der Corona-Pandemie in vieler Leute Munde und hat überhaupt nichts gemeinsam mit einer Impfskepsis verbunden mit weissen Kapuzenhemden, Trychlen (grosse Kuhglocken) und Armbrüsten. Vielmehr stellt der Ausdruck eine Gegenposition zum „Duckmäusertum“ dar. Die Schweizer DNA zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen natürlichen Reflex gegen Autoritäten, Hierarchien und Dominanzverhalten aufweist. Der „Gessler-Hut“ lässt grüssen und trotz der überaus zahlreichen Burgen und Schlösser im Lande entwickelte sich nie eine Begeisterung für eine Monarchie. Es galt und gilt „Standes-unterschiede“ möglichst klein zu halten.


Ein senkrechter Schweizer vertritt seinen Standpunkt, seine persönliche Sichtweise, seine eigene Position in der Gesellschaft. Damit dies möglich wird, muss er zu sich selbst stehen sowie mit beiden Beinen fest im Leben stehen, Boden unter den Füssen haben. Dies alles kommt nicht nur in verbaler Form mit den entsprechenden Argumenten zum Ausdruck, sondern auch mit der damit verbundenen Körperhaltung. Diese ist mitentscheidend ob eine Botschaft ankommt, Gewicht erhält oder nicht.


Beim Bogenschiessen ist die Körperhaltung matchentscheidend. Sie beginnt mit dem richtigen Stand. Die Knie sind nicht durchgestreckt, die Füsse stehen parallel zueinander und etwa schulterbreit voneinander entfernt. Das sorgt für die entsprechende Stabilität. Das vielleicht auffälligste Merkmal des richtigen Standes beim traditionellen Bogenschiessen besteht darin, nicht zum Ziel gewandt zu sein: Der Körper ist vielmehr um 90 Grad nach rechts (im Uhrzeigersinn) vom Ziel abgewandt!


Bezogen auf die mentale Ebene heisst das: Der vertretene Standpunkt benötigt eine gewisse „Bandbreite“, darf nicht „schmalspurig“ daherkommen und schon gar nicht punktuell. Letzeres fördert die Wankelmütigkeit und lässt Be-ständ-igkeit vermissen. Um seinen Standpunkt mit guten Argumenten vertreten zu können, sind andere Blickwinkel zu berücksichtigen. Wer seinen Stand-punkt vertritt, muss mit Wider-stand rechnen. Das ist nicht per se schlecht, sondern dient dazu, die eigene Position zu festigen. Wird ein Baum durch den Sturm geschüttelt, kräftigt das seine Wurzeln und er bekommt einen besseren Halt, bzw. Stand.


Wie stehe ich zu mir, den Mitmenschen, der Umwelt? Habe ich Boden unter den Füssen? Hat mein Stand eine breitgefächerte Grundlage? Wie aufrichtig bin ich? Wo sind ich meine Wurzeln?


Den eigenen Standpunkt zu vertreten heisst keineswegs mit dem Kopf durch die Wand gehen wollen. Denn Wände sind in der Regel bedeutend stärker. Vielmehr geht es darum, die eigene Überzeugung mutig, nachdrücklich und konsequent zu vertreten. Sprichwörtlich sind Luthers Worte am Reichstag 1526 in Worms: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Erfolgreich wird ein Standpunkt vertreten, wenn er mit anschaulichen Beispielen untermauert, Dinge weder „schöngeredet“, noch ausschweifend und unzusammenhängend gesprochen wird. Eine adäquate Körperhaltung verstärkt das Gewicht der Argumente.


Beispielsweise: Wer etwas Wichtiges zu sagen hat, sollte den Kopf gerade halten. Mit dem Kopf wackeln oder ihn schief halten – beides wirkt unsicher. Keinesfalls am Ende einer wichtigen Forderung lächeln. Die Aussage „Ich brauche die Unterlagen bis morgen“ nimmt man viel ernster, wenn das Gegenüber am Ende des Satzes nicht freundlich grinst. Wer einen klaren Standpunkt hat, steht auf beiden Beinen fest und unverrückbar. Das wirkt kompetent. Unsicher wirkt dagegen, wenn man ständig das Gewicht von einem auf das andere Bein verlagert.


„Senkrecht sollt ihr stehen, aber quer denken!“ bestimmt eine gute Option. Doch auch das Gegenteil hat seine Berechtigung: „Senkrecht (geradlinig) denken und sich quer stellen (unkonventionell handeln)!“ Anders zu denken – ob quer oder senkrecht – führt zu neuen Sichtweisen und zu Veränderung. Beide Arten, eine Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, ergeben logischerweise eine an-mutige T-Haltung wie sie beim Bogenschiessen üblich ist.