stabilitas loci – Ortsgebundenheit – Wiederholbarkeit

Mönchsregeln verlangen u.a. sich dem Grundsatz der stabilitas loci zu verpflichten. Die Ortsgebundenheit bietet die Möglichkeit, um mehr zu sehen, in weitere Ferne zu blicken und in tiefere Tiefen zu schauen. Das Geheimnis der stabilitas loci wird in der heutigen Zeit weitgehend vergessen. Gefordert ist vielmehr Flexibilität und Mobilität. Was sich nicht schnell verändert, gilt bald einmal als langweilig. Die „Nebenwirkungen“ einer solchen Lebensweise sind u.a. Oberflächlichkeit, Gehetztheit bis hin zum Burn out.


Die stabilitas loci fordert den Menschen heraus, sich den tagtäglich stellenden Herausforderungen zu stellen und nicht vor ihnen zu „flüchten“. Erst wenn man über längere Zeit am selben Ort verweilt, wird es möglich, die manchmal unscheinbaren und kleinen Veränderungen zu entdecken, welche bei einem „flüchtigen“ Besuch eines Ortes kaum erkannt werden können.


Die stabilitas loci ist beim Bogenschiessen – auch ohne Mönchsgelübde – eine wichtige Grundvoraussetzung. Sie heisst hier: Nichts von Hier und Her, Auf und Ab, sondern Wiederholbarkeit vom gleichen Standpunkt aus. Entscheidend ist der stets gleich ausgeführte Bewegungsablauf. Von der Einnahme des Standes bis zum Lösen des Pfeiles muss der Ablauf immer wieder völlig identisch, reproduzierbar sein. Das Unterbewusstsein speichert den Bewegungsablauf ab. Die Summe der Erfahrungen, die das Gehirn beim Training durch Treffer und Fehlschüsse sammelt und festhält, erlauben es dem Schützen zuverlässig den Pfeil im Ziel zu platzieren. Absicht ist es, den Bewegungsablauf so zu automatisieren, dass er sich ohne Nachzudenken ausnahmslos gleich reproduzieren lässt.


Die Grundhaltung des Bogenschützen „das T muss stimmen“ hat ihre Gültigkeit nicht nur auf einer eben, geraden Abschussposition. Sie ist auch einzuhalten, wenn es um Schüsse bergauf bzw. bergab geht. Es verändert sich einzig die Position der Beine. Die stabilitas loci beim Bogenschiessen bedeutet also: Eine unveränderliche Grundhaltung einnehmen, diese jedoch ständig den äusseren Bedingungen des Geländes anpassen.


Was hier als „technische“ Instruktion in Erscheinung tritt, erhält beim meditativen Bogenschiessen einen spirituellen Aspekt: Jede Person benötigt eine Grundhaltung im Leben. Erst wer über eine solche verfügt, kann auch einen Standpunkt einnehmen und diesen vertreten. Diese Grundhaltung darf jedoch nicht zu einem starren, fundamentalistischen System verkommen. Das Leben verläuft nicht statisch, nicht immer geht es geradeaus, sondern mal rauf und mal runter. Wem es nicht gelingt, sich den wechselnden Bedingungen anzupassen, wird am Schicksal zerbrechen. Die stabilitas loci beim Bogenschiessen ist paradox: Immer gleich und doch veränderlich! Dies findet sich ebenso bei den Jahreszeiten: Stets die gleichen vier – Frühling, Sommer, Herbst und Winter – und doch ist jede Zeit Jahr für Jahr eine andere.


,,Ihr (= Schüler) besitzt Geschicklichkeit, habt Würde, habt Haltung”, sagte Tetsuya (= Meister des Bogens). „Ihr beherrscht die Technik und den Bogen, aber nicht Euren Geist. Ihr könnt schiessen, wenn die Bedingungen günstig sind, doch wenn Ihr Euch auf gefährlichem Terrain befindet, gelingt es Euch nicht, das Ziel zu treffen. Ein Bogenschütze aber kann sein Schlachtfeld nicht immer selber wählen, daher solltet Ihr wieder üben – und seid auf ungünstige Bedingungen gefasst! Setzt den Weg des Bogens fort, denn er ist der Weg eines Lebens.

aus: Paulo Coelho: Der Weg des Bogens


Im Bereich der Beziehungen ist stabilitas «überlebenswichtig». Nicht nur Kinder leiden darunter, auch Erwachsene sehnen sich nach stabilen Verhältnissen. Erst in einem solchen Umfeld ist es möglich, eine Vertrauensbasis aufzubauen und Geborgenheit zu bieten. Wer ein soziales Netz hat, das hält und einem gut tut, der lebt länger. Und der lebt glücklicher. Was einen Menschen nach vorne treibt, ist ein Gefühl von Beständigkeit, eine Form von Kontrolle über sein eigenes Leben.