Kyudo bzw. meditatives Bogenschiessen / Original oder Kopie?

Wie man etwas wahrnimmt, hängt vom eingenommenen Standort und der persönlichen Betrachtungsweise ab. Beispielsweise sieht ein Gebäude – abhängig vom Standort – ganz unterschiedlich aus, ist jedoch stets die gleiche Baute. Und wie die Baute wahrgenommen wird, ist das Resultat der persönlichen Wahrnehmung. Ein Denkmalschützer wird sie anders sehen als ein Bauunternehmer: mal ein schützenswertes – mal ein Objekt zum Rückbau. Was für Bauten zutrifft, hat auch für das meditative Bogenschiessen Gültigkeit.

Kyudo erscheint im Westen oft als eine Form meditativen Bogenschiessens in enger Anlehnung an das Buch „Zen und die Kunst des Bogenschiessens“. Ein wesentlicher Grund für seine Wirkung ist, dass Herrigel ein tiefes Mangelgefühl, eine unbefriedigte Sehnsucht der Europäer nach Spiritualität und Lebenssinn angesprochen hat.

Japaner dagegen sehen im Kyudo kaum eine religiöse/spirituelle Komponente oder eine andere Form der Selbstfindung, sondern den „Weg des Bogens“ mit verschiedenen Aspekten: Die Übung ist ganz und gar körperlich in dem Sinne, dass grosse Anforderungen an körperliches Üben gestellt werden – und sie ist „geistig“ in dem Sinne, dass hohe Konzentration auf körperliche Bewegungsabläufe gefordert ist. Es fehlt eine Trennung von Geist, Körper und Bogen, sondern alle drei bilden eine harmonische Einheit, welche auch die Elemente Wahrheit, Güte und Schönheit hervortreten lässt. Darin drückt sich der Charakter und die Würde des Bogenschützen aus. Die Praxis des Kyudo ist nicht von individualistischer Innerlichkeit geprägt, sondern von Höflichkeit und Achtsamkeit für die Mitübenden und den Meister. Deshalb die enorm starke Betonung der „Etikette“, des Rituals.

Die Noten Klassischer Musikstücke sind schriftlich überliefert, die Tonhöhe, die Tonlänge, ihre die Melodie stiftende Abfolge sind festgelegt, unverrückbar, unveränderbar. Zudem haben manche einen christlichen Hintergrund. Werden solche Werke z.B. durch japanische Dirigenten und Musiker aufgeführt, erhalten sie eine östliche „Färbung“, welche der Qualität des Stückes keinen Abbruch tut, sondern dieses in einem neuen Licht erscheinen lässt. Die künstlerische Interpretation ist einfach anders – eine Bereicherung.

Respekt, Achtsamkeit, Sorgfalt und Einsatz, Sport als Charakterbildung im Sinne des Erlebens von Gemeinsamkeit und Fairness, Einfügen in eine Gemeinschaft – all das sind „geistige“ Werte, welche der westliche Sportgedanke ebenso entwickelt hat wie die japanische Gesellschaft ihre geistigen Ideale bei den budô-Künsten (Kampfkünsten). Das westliche Verständnis ist jedoch stärker von der Perspektive der Freiheit des Individuums als der Anpassung an das Kollektiv geprägt.

Der Schöpfungsbericht (Genesis 1,27) hält fest: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ Im Alten Testament erscheint der Mensch also als Kopie des Originals, als Kopie Gottes. Man mag sich dazu verhalten, wie man will: Die knappe Passage spricht von Urbild und Abbild, sie spricht von Nähe und Ferne der Kopie, von ihrer Ähnlichkeit, aber nicht zwingend Gleichartigkeit. Der Akt des Kopierens, wie auch das Resultat, die Kopie, gelten als Form der Aneignung und unterscheiden sich wesentlich von der „copy and past“-Kultur des Internetzeitalters, wo keine eigene Kreativität beim Vorgang des Kopierens erkennbar ist. Etwas richtig zu imitieren ist sehr anspruchsvoll! Das Vorbild ist genau zu verstehen. Gute Nachahmer sind deshalb erfolgreich, weil sie neue Wege er-finden oder die Technik in einen neuen Kontext einbetten bzw. kulturell anpassen.

Was der „Weg des Bogens“ in Form des meditativen Bogenschiessens an einer Stelle an japanischer Eigenart verliert, gewinnt er an anderer Stelle die individuelle Freude an der Ausübung eines körperlich und geistig ebenso fordernden wie hochästhetischen Sports. Also: besser eine gute Kopie als ein mangelhaftes Original.